Why Did It Have To Be Me
Dortmund, 29. August: "Was für ein Bullshit", murmelte Selma vor sich hin und warf genervt die Illustrierte, in der sie gerade gelesen hatte, in die Ecke. "Gibt es eine objektive Wahrheit?", hatte das pseudowissenschaftliche Dossier gefragt, das frauenaffin und stark auflagenorientiert die Promiklatsch- und Modestrecken in der Zeitschrift störte und Selma wertvolle Lebenszeit stahl. Wobei, Zeit hatte sie im Moment eigentlich genug: Keinen Mann mehr, kein Haustier mehr und der Job war nun auch noch futsch. Spitzenlauf. Wirklich. Zumal die Wahrheit ohnehin eine höchst flexible Angelegenheit war. Für Selma gab es im Augenblick nicht mehr viel, woran sie glauben konnte und wollte. "Schreiben Sie Ihre fünf unumstößlichen Wahrheiten auf!", hatte sie der Psychotest aufgefordert. Na schön:
1. Alle Männer sind Idioten!
2. Von allen Hunden sind Beagles die größten Idioten.
3. Bastian Schweinsteiger ist der beste Mittelfeldspieler der Welt.
4. Es gibt keine Gespenster.
5. Die Erde ist eine Kugel.
Das war Selmas magerer Output – und die beiden letzten Punkte standen da ohnehin nur als Füllmaterial. Das Ergebnis des Tests fiel entsprechend niederschmetternd aus. Pessimistisch-misanthropische Grundstimmung wurde ihr diagnostiziert, mit einem starken Hang zum Zynismus. Natürlich hatte das Magazin das ein wenig charmanter formuliert, aber Selmas düsterer Gemütszustand hatte sich selbstverständlich ausschließlich auf den Subtext konzentriert. Gereizt stand sie auf und fing an, ihre Wohnung in einen halbwegs präsentablen Zustand zu bringen. Ihr alter Kumpel Fritz wollte gleich vorbeikommen, und dem konnte sie diesen Saustall nicht zumuten.
"Hier stinkt's nach Rauch!", beklagte er sich prompt, als er eine halbe Stunde später vor ihrer Tür stand, einige Tüten mit Klamotten in der einen Hand – Fritz war ein aufstrebender Modedesigner mit eigener TV-Show und entsprechendem Ego – und einen Korb voller Lebensmitteln in der anderen.
"Kann nicht sein", behauptete sie, küsste ihn auf beide Wangen und nahm ihm den Korb ab. Wow, er war ganz offensichtlich in einem Feinkostladen gewesen! Schade, dass sie Fritz schon ihr ganzes Leben lang kannte und er wie ein Bruder für sie war, denn eigentlich wäre er der perfekte Mann. Zumindest wenn man großzügig darüber hinwegsah, dass er schwul war und sie dazu bringen wollte, endlich einmal ihre 'feminine Seite' adäquat zu betonen und ihr daher ständig irgendwelche Musterteile aus seinen Kollektionen anschleppte.
"Doch! Und du selbst stinkst auch nach Rauch!" Er schnupperte an ihren Haaren und wandte sich angewidert ab. "Qualmst du etwa neuerdings?"
"Hm."
"Aber du hast doch dein ganzes Leben nicht geraucht. Findest du es nicht ein klein wenig kindisch, mit fast vierzig damit anzufangen?" Er musterte sie mit gerunzelter Stirn und fing dann an, die Kleider auszupacken und auf ihrem Sofa zu drapieren.
"Ich bin achtunddreißig! Und abgesehen davon ist es doch völlig egal, wie ich mich zugrunde richte. Ich könnte mich auch auf die Straße stellen und hoffen, dass ich vom Bus überfahren oder vom Blitz getroffen werde. Kann ich genauso gut auch rauchen."
"Das ist doch totaler Schwachsinn, Püppi", murmelte Fritz, während er in einer der Tüten nach Accessoires kramte. "Selbst wenn man den Fakt ignoriert, dass Rauchen absolut unsexy und potenziell tödlich ist, kosten die Kippen schließlich ein Schweinegeld. Und du bist doch jetzt auch noch arbeitslos, oder habe ich deine hysterische Nachricht von gestern auf meiner Mailbox etwa falsch interpretiert?"
"Vielen Dank für den Hinweis", schnaubte Selma. "Ich habe dich angerufen, weil ich Trost und Mitgefühl brauche. Wäre mir nach einer Auflistung meiner zahlreichen Defizite gewesen, hätte ich mich auch an meine Mutter wenden können." Sie funkelte ihren – Notiz ans Unterbewusstsein: ehemals! – besten Freund wütend an. "Und was soll ich überhaupt mit diesen Fummeln?"
"Du bist so undankbar", seufzte Fritz und streichelte zärtlich eine perlgraue Seidenbluse. "Es gibt Frauen, die würden sich entleiben, wenn sie meine Kreationen kostenlos bekämen."
"Dann hätten sie aber nicht mehr viel davon."
"Bitte?"
"Na, wenn sie sich umbringen, können sie mit den Klamotten auch nichts mehr anfangen. Außerdem gäbe es unschöne Flecken. Was das allein an Reinigung kostet! Waschen kann man deine Sachen ja nicht."
"Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du eine zynische Zimtzicke bist?", fragte Fritz mit gerunzelter Stirn. "Und jetzt zieh das rote Etuikleid an."
"Du sollst mich trösten und nicht verkleiden", rief Selma unwirsch, schlüpfte aber aus ihrer ausgebeulten Lieblingsjeans und dem gerippten Tanktop.
"Ich tröste dich doch – oh mein Gott, was ist das? Mit dieser Unterwäsche wirst du nie wieder Sex haben!"
"Die ist bequem", verteidigte sie sich. "Außerdem geht dich mein Sexleben gar nichts an."
"Ach? Und ich dachte, deshalb bin ich hier." Er zog mit einem süffisanten Grinsen eine Braue hoch.
"Du bist hier, weil mein ganzes Leben aus den Fugen geraten ist! Aber du hörst mir ja wieder nicht zu. Typisch Mann! Wofür habe ich bitteschön einen schwulen Freund, wenn ich mich nicht mal bei ihm ausheulen kann?"
"Mit Tom und Jerry auf den Titten und Bugs Bunny auf dem Arsch kommst du mir jedenfalls nicht in mein rotes Kleid." Fritz war wieder bei den unangemessenen Dessous angekommen und ignorierte ihre Vorhaltungen.
"Fritz, Fritz, Fritz, wo soll das noch hinführen?", seufzte sie mit triefendem Sarkasmus in der Stimme. "Wenn du solche Sprüche bei Styling Princess bringst, bist du deine glamouröse Fernsehkarriere ruckzuck los. Ich weiß, wovon ich spreche. Und jetzt her damit!", forderte sie und stieg vorsichtig in das Kleid.
"Wahnsinn! Ich sag dir, wenn du auch nur einmal mit so einem Kleid zur Arbeit erschienen wärst, hättest du deinen Job noch." Fritz bewunderte sein Werk, das sich wie eine zweite Haut an seine gereizte Freundin schmiegte. Jammerschade, dass Selma so eine störrische Kratzbürste war, die ihren Traumkörper – rein professionell betrachtet, selbstverständlich – am liebsten in irgendwelchen abgeranzten Baggy-Jeans und unsäglichen T-Shirts versteckte.
"Nur falls du dich nicht mehr erinnern kannst, ich bin Sportreporterin bei Wave FM! Was soll ich da mit so einem Edelfummel?"
"Du warst Sportreporterin", korrigierte Fritz sie sanft. "Und wenn du dieses Kleid zusammen mit der dafür angemessenen Einstellung getragen hättest, wärst du es immer noch."
"Unwahrscheinlich …" Selma schluckte schwer, doch sie würde jetzt auf keinen Fall zu heulen anfangen. Niemals!
"Komm mal her", forderte er sie nun auf und zog sie neben sich aufs Sofa. "Ich will jetzt alles ganz genau wissen! Angefangen beim treulosen Karl-Heinz bis hin zum gloriosen Rauswurf aus dieser Radio-Klitsche."
"Er heißt Carlos", grummelte sie. Und auch wenn Fritz den ersten Teil der Geschichte schon mit allen unschönen Highlights kannte, breitete sie ihren persönlichen Horrortrip der letzten drei Monate noch einmal minutiös aus.
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