Montag, 8. Februar 2016

[Leseprobe] Küss mich wach von Mila Summers




Tante Anne hatte mich gewarnt. Hätte ich doch nur auf sie gehört. Aber nein, ich musste ja mal wieder meinen Dickkopf durchsetzen. Und was hatte ich nun davon? Ich saß in einer Kleinstadt im Mittleren Westen fest. Das Einzige, was mich daran hinderte den erstbesten Flug nach Hause zu nehmen, war mein geschundenes Ego, das sich die Niederlage nicht eingestehen wollte.
 
Immer und immer wieder las ich die wenigen Zeilen auf dem fettverschmierten kleinen Zettel in meiner Hand, meinem Fahrschein in ein neues, aufregendes Leben. Allzu gerne folgte ich der Verheißung. Die Bedingungen klangen einfach zu verführerisch. Zwei freie Tage die Woche und bezahlte Überstunden waren in der heutigen Zeit keine Selbstverständlichkeit.
Mit dem Geld wäre es mir ein Leichtes gewesen, den Kredit abzubezahlen, den ich dank Mike noch immer tilgen musste. Was mich damals geritten hatte, für diesen Vollidioten den Schuldschein zu unterschreiben, weiß ich bis heute nicht.
 
Eigentlich trug ich selbst die Schuld daran. Hals über Kopf war ich losgestürmt, um mir den Job zu sichern. Dummerweise ohne meine Referenzen im Gepäck. Viel schlimmer wog allerdings die Tatsache, dass ich wohl vergaß, meine Bewerbungsunterlagen abzuschicken.
Tante Anne versuchte mich noch händeringend an einer überstürzten Abreise zu hindern, aber ich konnte einfach nicht aus meiner Haut. So war ich nun mal: planlos, neugierig und von nichts und niemandem zu bremsen. Früher halfen mir diese Eigenschaften. Besonders nach dem Tod meiner Eltern musste ich schnell lernen, mich alleine durchs Leben zu schlagen.
 
Als alleinstehende, ältere Dame stellte sich Tante Anne – damals bereits weit über siebzig – der Herausforderung, ohne zu wissen, was ein sechzehnjähriger Teenager für ein Chaos anrichten konnte. Völlig resigniert ließ sie mich irgendwann einfach machen.
 
Das Motel, in dem ich mir ein Zimmer nahm, hatte seine besten Jahre weit hinter sich gelassen. Die Fugen im Bad waren so schwarz, dass man fast annehmen könnte, es gehöre so. Die Fenster ließen vor Schmutz kaum Sonnenlicht in den kleinen Raum, wobei dieser Umstand vielleicht gar nicht so schlimm war. Mir reichte das, was ich sehen konnte, bereits vollkommen aus.

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