Samstag, 12. Dezember 2015

Hot Chocolate - Ava & Jack [Leseprobe] Charlotte Taylor


»Tu nichts, was ich nicht auch tun würde, mein Schatz!«
Ava King rang sich ein gequältes Lächeln ab, als sie nach dem Abschie
dsgruß ihrer Mutter ins Auto sprang und sich auf den Heimweg machte. Warum mussten ausgerechnet ihre Eltern so verdammt offenherzig sein? Statt sich, wie andere Erzeuger, über akademische Meriten ihrer Kinder zu freuen, vertraten Lynn und Seymour King den Standpunkt, dass Ava ihre Jugend verschwende. Musste man wirklich Fragen à la »Wann hattest du deinen letzten Orgasmus?« mit seiner Mutter diskutieren? Ernsthaft? Das war nach Avas unwesentlicher Meinung selbst für eine Psychologin mit Schwerpunkt Sexualtherapie ziemlich übergriffig. Aber ihre Mom hielt nichts von Zurückhaltung und hatte ihre Tochter während der letzten drei Stunden gewaltig in die Mangel genommen.
Ava streichelte Henry, der sich auf dem Beifahrersitz gemütlich zusammengerollt hatte, über den wolligen Kopf und trat dann beherzt aufs Gaspedal von Lanas altem Alfa. Er war in ihrer Wahrnehmung immer noch das Auto ihrer Schwester, die vor zwölf Jahren an einem Gehirntumor gestorben war. Lana war damals erst einundzwanzig gewesen und an ihrem Todestag hatte sich die elfjährige Ava geschworen, Medizin zu studieren, um Krebs zu heilen. Von diesem Ansinnen war sie seitdem keinen Millimeter abgewichen und hatte all ihre Energie in Schule und Uni gesteckt. Sie wollte die optimale Ausbildung in kürzestmöglicher Zeit absolvieren, damit sie bald Patienten retten konnte. Und falls eine Heilung nicht möglich war, wenigstens ihre Qualen lindern. Also all jenes, was ihrer Schwester verwehrt geblieben war. Ihre gesamte Kindheit war von Lanas Krebs geprägt gewesen, der Krankheit eines lebenshungrigen, fröhlichen und in Avas Augen überirdisch schönen Mädchens. Einer jungen Frau, die so viel mehr verdient hätte, als elendiglich an einem bösartigen Tumor zugrunde zu gehen, und die eine Lücke in Familie und Freundeskreis hinterlassen hatte, die bis heute nicht vollständig geschlossen war.
Zumindest in Avas Wahrnehmung. Ihre Eltern sahen das inzwischen ganz offensichtlich anders. Sie waren der Meinung, dass sich Ava viel zu extrem in ihren kindlichen Schwur hineinsteigerte. Klar waren der Juraprofessor und die Psychotherapeutin froh darüber, dass ihre jüngere Tochter Ehrgeiz hatte und einen soliden Beruf ergreifen wollte, aber ihr Standard-Seufzer lautete inzwischen: »Liebling, du hast nur ein Leben. Genieße es. Und genieße es jetzt! Kein Mensch weiß, was morgen ist.« Wenn es nach ihren Eltern ginge, sollte sich Ava dringend mal ein Urlaubssemester gönnen, die Welt entdecken und vor allem die Liebe. Letzteres kam vorzugsweise von ihrer Mutter, die den gerade gemeinsam – ohne Daddy Seymour – verbrachten Abend ausführlich dazu genutzt hatte, auf das größte Defizit im Leben ihrer Tochter einzugehen:

»Dir wird auf ewige Zeiten etwas fehlen, wenn du jetzt nicht lernst, Liebe zuzulassen.«
»Aber Mom, ich habe kein Problem mit der Liebe. Es gibt reichlich Liebe in meinem Leben! Ich liebe dich und Dad, ich liebe meine Freunde und Henry.« Ava zupfte zärtlich am Ohr ihres braunen Großpudels Henry, der sie ergeben anschmachtete.
»Schätzchen, du willst mich absichtlich falsch verstehen«, seufzte ihre Mutter. »Weder mit deinem Vater noch mit mir und schon gar nicht mit deinem Hund wirst du jemals wahre Leidenschaft erleben, die Energie spüren, die nur durch tiefste Hingabe freigesetzt wird. Vielleicht mit einer deiner Freundinnen, denn spirituelle Sexualität ist nicht ans Geschlecht gekoppelt ...«
»Mom!«, unterbrach Ava sie empört. »Ich bin keine Lesbe und ich habe dir schon tausendmal gesagt, dass ich mit meinen Eltern nicht über mein Liebesleben reden möchte!«
»Wenn du ein Liebesleben hättest, bräuchten wir auch nicht darüber zu sprechen«, entgegnete Lynn leichthin und vollkommen unbeeindruckt vom Unbehagen ihrer Tochter. »Außerdem kann man ein wunderbares erotisches Erlebnis mit einem gleichgeschlechtlichen Partner auch dann haben, wenn man heterosexuell ist. Dieses Schubladendenken ist ohnehin ungesund. Ich finde, jeder sollte mindestens einmal im Leben auch ein homosexuelles Abenteuer haben. Frag doch mal deine Mitbewohnerinnen, vielleicht haben sie ja auch Lust dazu.«
»Sagst du das eigentlich auch deinen Patienten?«, fragte Ava fassungslos. Und stellte sich zu ihrer eigenen Überraschung tatsächlich vor, wie es wäre ... Lisa wäre bestimmt nicht abgeneigt ...
»Selbstverständlich! Ich ermutige alle, aus sich herauszugehen. Masturbation ist zwar wunderbar, um sich zwischendurch ein gutes Gefühl zu verschaffen, aber richtige Hingabe lernt man nur, wenn zwei Menschen beteiligt sind. Und Vaginen und Penisse ins Spiel kommen.«
»Mom, bitte! Ich will das wirklich nicht weiter vertiefen«, jammerte Ava gequält. Sie hatte mit vierzehn von ihrer Mutter den ersten Vibrator bekommen. Zum Geburtstag! Und zum letzten Weihnachtsfest sündhaft teure, rote Seiden-Dessous. Das war doch nicht normal! Warum konnten sich ihre Eltern nicht freuen, dass sie bei ihren letzten Klausuren Bestnoten und im Praktikum Topbewertungen bekommen hatte?
»Liebling, irgendjemand muss dir auf die Sprünge helfen. Und ich wäre froh gewesen, hätte ich damals mit meiner Mutter über Sex reden können.«
Das bezweifelte Ava aus tiefster Seele, sagte jedoch nichts.
»Du bist wunderschön, du bist intelligent, du wirst bestimmt eine großartige Karriere machen, wenn du das möchtest. Aber ohne Liebe und Hingabe wird ein wichtiger Teil deines Seins verkümmern. Das wird wie eine Behinderung sein. Willst du das?«
»Mutter, tu bitte nicht so, als sei es eine schwere Krankheit, wenn ich nicht ständig Sex habe!« Behinderung? Also wirklich.
»Ich spreche nicht von ›ständig Sex haben‹, ich rede von wahrer Hingabe.«

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